Streifzug durch die Stadt- Teil 1


Begleite mich einmal auf einem Streifzug durch die Stadt und lasse dir die wahre Armut unserer Zeit vor Augen führen. Hierbei kann jede Stadt anstelle von meine Stadt eingesetzt werden.

Warnung: Lese den Text lieber nicht, wenn du gute Laune hast.
Als ich mich auf den Weg zu einem Streifzug durch die Stadt mache, weiß ich noch nicht, dass es mir später schlecht gehen wird und ich lieber nicht dorthin gegangen wäre. Eigentlich möchte ich nur etwas erledigen und danach eine Kleinigkeit einkaufen, meine Route wird mich jedoch quer durch die Stadt führen.
Nach fünfundvierzig Minuten habe ich sie erreicht und erledige den ersten Punkt auf meiner Liste. Ich befinde mich nun mitten im Stadtkern. Es ist vierzehn Uhr. Die Schüler, die nicht in die Ganztagsschule müssen- oder die das Glück haben, dass zu wenig Lehrer vor Ort sind und frei bekommen haben- besuchen die übliche Fressmeile. Dönerbuden, Bäckereien und Fast- Food- Läden haben bei den Kindern und Jugendlichen Hochkonjunktur. Es scheint, als würden deren Betreiber die tagtäglichen Besucher für das Fortbestehen ihre Geschäfte dringend benötigen, da fast ausschließlich Schüler ihre ungesunden Angebote nutzen. Vor und neben den Geschäften sitzen und stehen die Armen: Menschen mit kaputter, alter und abgenutzter Kleidung. Ein ungefähr vierzig Jahre alter Mann hält eine Bierflasche in der Hand. Seinem äußeren Erscheinungsbild und der nicht vorhandenen Rasur nach zu urteilen, entspricht er nicht gerade dem gepflegten Bild eines Mannes in seinem Alter. Ein paar Meter hinter ihm sitzt ein jüngerer Mann, kaum älter als die Schüler, auf dem kalten Fußweg mit einer Decke um die Beine geschlungen und weist mit seinem Kaffeebecher aus Pappe dezent auf ein paar Cent zum Überleben hin.

Die ersten Schüler kommen schon wieder aus dem Fast- Food- Laden. Ich sehe sie mir genauer an: Markenkleidung, die zwar zu eng sitzt, dafür aber gepflegt aussieht. Ich picke mir immer mehr einzelne Schüler heraus und bekomme schnell ein vielsagendes Gesamtbild: die Mehrheit von ihnen trägt zu viele Pfunde auf den Rippen. Sie sind schlicht und einfach übergewichtig. Bei einer Mädchenclique lugt lediglich etwas Hüftspeck unter der Kleidung hervor. Ein etwa Zwölfjähriger dagegen hat doppelt so breite Beine wie ich, die darin regelrecht eingeschnürt wirken. Seine Hose wird ihnen mit Sicherheit nicht mehr lange standhalten, sollte er die Fressmeile noch einige Male besuchen.
Hin und wieder sehe ich in aufgequollene Gesichter, die gerade dabei sind, einen reich befüllten Wrap und ähnliches zu verdrücken.

Eigentlich würde ich den Ort jetzt gerne verlassen, aber ich muss noch etwas einkaufen. Ich laufe also weiter die Straße hinunter, komme vor allem an Spielhallen und leeren Geschäften vorbei. Zwei Geschäfte hatte ich vor einigen Monaten noch von innen gesehen, nun waren sie geschlossen- wie so vieles in meiner Stadt. Die Außentemperatur beträgt neun Grad, es ist grau und langsam fühlt sich auch mein Inneres grau an. Ich gehe an defekten Straßenampeln und (absichtlich?) umgefahrenen Straßenschildern vorbei. Noch eine Spielhalle. Aus dieser tritt ein Mann, der ungefähr in meinem Alter ist. Seine Haut ist blass, seine kahlen Haare werden von einer Kappe verdeckt, seine Augen haben dunkle Ränder. Ich habe diesen Mann schon öfter gesehen, wenn ich ihn auch in diesem Moment nicht zuordnen kann. Er versucht also auf diese Weise, mit seinem geringen Geld irgendwie über die Runden zu kommen.

Die leeren Geschäfte häufen sich. Verziert werden sie von Graffiti- als wäre die Schmiererei mit fremdsprachigen Schimpfwörtern Kunst und Graffiti nach den Neunzigern noch modern. Aber es scheint einfach nicht auszusterben, besonders in den Armutsvierteln. Genau dorthin führt mich mein Weg- leider.
Doch zuvor komme ich an einem Bahnhof vorbei. Dort stehen sechs Personen, die alle eine Bierflasche der selben Marke in den Händen halten. Um sie herum stehen Menschen, die mit einem öffentlichen Verkehrsmittel nach Hause fahren oder ihre Schicht antreten müssen. Die offensichtlich Alkoholisierten werden von niemandem beachtet. Ich hoffe, sie machen keinen Ärger.
Ein paar Meter entfernt wurden gleich mehrere Geschäfte abgerissen. Die freie Fläche hat einen Zaun bekommen, wie ich bemerke. Der war vor zwei Wochen noch nicht da. Wie ich später herausfinde, wurde er installiert, um Obdachlose und andere Problembereiter von dem Grundstück fernzuhalten. Ein Zaun um ein leeres Stück Erde- ich werde nicht mehr. Menschen, die ohnehin nichts haben, werden ausgesperrt- von einer Fläche, auf der schon lange Zeit nicht einmal mehr Gras wächst.

Weiter geht´s in wenigen Tagen mit dem zweiten und letzten Teil von meinem Streifzug durch die Stadt!