Streifzug durch die Stadt- Teil 2

 
Im zweiten Teil beende ich meinen Streifzug durch die Stadt und mache mir Gedanken über die Menschen, denen ich darin begegnet bin.

Warnung: Lese den Text lieber nicht, wenn du gute Laune hast.
Gleich vor dem umzäunten Flecken Erde stehen zwei Mädchen, die sich in einer anderen Sprache unterhalten. Als ich näher komme, lachen sie, als ich weitergehe, wird ihr Lachen lauter. Ich drehe mich um und sie lachen noch mehr, so, als würden sie gerade im Kino sitzen und sich den lustigsten Film der Welt ansehen.
Das Armutsviertel, welches sich in der Nähe des Bahnhofes befindet, liegt bald vor mir. Auf der einen Seite wurde erst vor Kurzem ein typischer Lebensmitteldiscounter eröffnet und prägt damit noch mehr das Viertel der besonders Armen. Auf dieser Straßenseite befinden sich passenderweise Häuser mit heruntergekommener Fassade, eingerahmt von verwucherten Sträuchern. Ich bin froh, mich auf der anderen Straßenseite zu befinden, wo der Vermieter gleich mehrere Häuser neu erbauen ließ. Ihre saubere Fassade wirkt modern und passt in die Stadt- so wie es sein sollte.
Drei Jugendliche geben sich die Hand. Das Ritual wirkt auf mich befremdlich. Sie verabschieden sich bloß, aber vielleicht ahmen sie das Händeschütteln auch von einem Besuch bei der Bank nach. Einer der Jungs schwingt sich auf sein Fahrrad und fährt an mir vorbei- auf der falschen Straßenseite.

Ich erreiche das Gebäude, in welchem ich den Einkauf tätigen möchte. Danach laufe ich weiter, da dies der einfachste Weg zurück ist und ich mir das Elend der Stadt nicht noch ein weiteres Mal vor Augen führen möchte. Mittlerweile bin ich zwei Stunden unterwegs. Ich komme nicht umhin, an weiteren leerstehenden Häusern- besser Baracken genannt- ungepflegten und verwilderten Vorgärten und heruntergekommenen Gebäuden vorbeizugehen. Mittlerweile hinterfrage ich nichts mehr, ich mache mir nur noch Gedanken.
Wie können die Schüler von vorhin hier nur groß werden? Werden sie nach der Schule ebenfalls vor den Geschäften sitzen, um nach Geld zu betteln? Welche Perspektiven haben Menschen überhaupt in einer Stadt, die sich so hässlich zeigt?
Ich erreiche weitere Schandflecke. Der Geruch von Joints und anderen verbotenen Substanzen liegt in der Luft. Ich muss unweigerlich an mein Buch Depressiva denken. Nicht, dass Drogen darin vorkämen, aber der Titel spiegelt meinen momentanen Gefühlszustand perfekt wider- und daneben das Lebensgefühl einer ganzen Stadt.

Nach einer weiteren halben Stunde und leerstehenden Geschäften komme ich an- ja, was eigentlich?- vorbei. Von außen steht kein einziges Wort in meiner Muttersprache an der schmutzigen Scheibe. Ich sehe, dass sich darin Menschen aufhalten, aber was das für ein Geschäft sein soll, kann ich nicht sagen. Es befinden sich einige Stühle und Wandregale darin. An der Fensterscheibe auf der anderen Straßenseite stehen ebenfalls kryptische Worte. Vielleicht wurde das Schaufenster gleich ganz mit dunkler Folie von innen verkleidet- damit Menschen wie ich sich erst gar nicht fragen, was sich darin befindet. Die Tür ist offen, der Putz im Inneren fällt von den Wänden. Vor einem Loch in der Wand steht eine Leiter. Man könnte meinen, dort würde etwas neues entstehen, aber so sieht es darin jeden Tag aus. Ich beschließe, nicht wissen zu wollen, was innen vor sich geht.
Inzwischen ist mir eingefallen, woher ich den jungen Mann aus der Spielhalle kenne- er wohnt eine Straße entfernt von mir. Auf meinem Weg begegnen mir weitere Menschen. Ihre nach unten hängenden Gesichtszüge sprechen Bände. Wo sie jetzt wohl am liebsten wären?
Ich weiß es nicht, aber hinter mir ertönt ein lauter Motor. Offenbar denkt der Fahrer des sichtlich aufgemotzten Wagens, er befände sich auf einer Rennstrecke. Diese Sorte von Fahrern erlebe ich nicht nur in ruhigen Straßen, sondern auch an Großkreuzungen. Mit quietschenden Reifen sowie durchgedrücktem Gaspedal fährt das Auto an mir vorbei- und biegt bei vollem Tempo um eine Kurve in eine Hauptstraße ein.

Kurz bevor ich zuhause ankomme, überlege ich, ob ich räuchern sollte. Die ganze negative Energie, den Smog, die Aussichtslosigkeit und depressive Blase, in der die Menschen, die mir über den Weg liefen, leben, einfach wegräuchern. Aber so einfach ist das nicht. Ich bin down und spüre, dass mir selbst das in diesem Moment nicht helfen würde. Von den zahlreichen Eindrücken bin ich regelrecht erschlagen- ich beschließe, davon nicht einen einzigen in einer meiner Geschichten unterzubringen. Das wahre Leben ist eben grausam genug, man muss es nicht auch noch in eine Fiktion packen.
Eigentlich hatte ich mir noch einige Dinge vorgenommen, die ich an diesem Tag erledigen wollte. Ich beschließe, es zu lassen, da ich mich fühle, als hätte mir ein Dementor die Lebensenergie geraubt.
Dieser Zustand soll noch lange Stunden nach meinem Streifzug durch die Stadt anhalten. Durch eine Stadt, die sich und ihre Einwohner längst aufgegeben hat.

Lese auch den ersten Teil von Streifzug durch die Stadt!